Kein Auge für
das Wunderwerk

Warum der Ostener Diedrich Rusch
nie die Schwebefähre malte

Vortrag von Jochen Bölsche (Osten) beim
Matthaei-Mahl am 29. 9. 2008 in Neuhaus

Meine Damen und Herren, ich bin eingeladen worden, über ein Bild des Ostener Malers Diedrich Rusch zu reden, den Wolf-Dietmar Stock einmal den "Otto Modersohn von der Oste" genannt hat. Als Ostener finde ich: kein schlechter Vergleich. Allerdings würde wohl keiner von uns beiden, weder Wolf-Dietmar Stock noch ich, so weit gehen, Otto Modersohn als den "Diederich Rusch von der Wörpe" zu bezeichnen.

In den nächsten Minuten möchte ich Ihnen etwas zumuten, für das ich früher in der Schule den Tadel kassiert hätte: "Thema verfehlt."

Denn ich will nicht groß interpretieren, was dieses Bild von Rusch zeigt. Es ist dasselbe wie auf allen anderen seiner vielen, vielen Bilder: Wasser, Wind, Wolken - und dazu manchmal Deiche, Prahmfähren, Ewer, Bockwindmühlen.

Ich will stattdessen darüber sprechen, was seine Bilder von der Oste bei Osten nicht zeigen: nämlich unsere demnächst 100 Jahre alte Schwebefähre.

Dieser Rusch, Jahrgang 1863, hat nach seinen Studienjahren in Weimar und in Italien  doch tatsächlich 62 Jahre lang - von 1897 bis 1959 - oben auf dem Deich in Osten gelebt und immer die gleichen Motive gemalt. Als er mit 96 Jahren stirbt, ist sein Lebenswerk, wie der beste aller Rusch-Kenner, Karl-Otto Richters, in einem brillanten Essay geschrieben hat, gekennzeichnet durch "Verharren im gleichen Malstil und in der ihm liebgewordenen Bilderwelt".

In den exakt fünfzig Jahren von 1909 bis 1959, in denen Rusch Tag für Tag die Schwebefähre vor seinem Fenster und vor seinem Auge hatte, hat er nicht ein einziges Mal dieses im Wortsinne herausragende Motiv gemalt. Noch 1949, vier Jahre vor seinem Tod, zeigt eines seiner Ostepanoramen den alten Fährprahm, der 1909, also 40 Jahre zuvor, seinen Betrieb eingestellt hat.

Gelegentlich ist gemutmaßt worden, dass dieser Künstler das Ostener Gittergerüst gehaßt hat. Aber: Wer die alten, verschimmelten Ostener Gemeindeakten zu Rate zieht, entdeckt: Rusch war, ganz im Gegenteil, ein Förderer des Fährenbaus. Im April 1908 wurde der "Landschaftsmaler", wie er in den Protokollen aufgeführt ist, sogar in die Fähren-Baukommission berufen, der sechs weitere hochangesehene Bürger des Ortes angehörten: der  Gemeindevorsteher, der Superintendent, der Amtsrichter und drei Bankiers.


Rusch (l.) mit Künstlerfreunden

Warum also hat der Schwebefähren-Befürworter Rusch die Schwebefähre als Motiv verschmäht?

Einen Hinweis auf den damaligen Zeitgeist in seiner Zunft verdanke ich Peter Schütt und Heiko van Dieken. Sie haben in den unveröffentlichten Memoiren von Alfred Vagts, des aus Basbeck stammenden weltberühmten pazifistischen Militärwissenschaftlers eine bemerkenswerte Passage gefunden. Als Vagts in den Zwanziger Jahren in Hamburg forschte und lehrte, lud dieser - neben Peter Rühmkorf - größte Sohn Hemmoors gern Kollegen aus der Großstadt in seine Heimat an der Oste. Darüber schreibt er: "Mühle und Fähre wurden ehrfürchtig bestaunt", "das technische Wunderwerk der Schwebefähre" imponierte den jungen Hamburger Soziologen und Politologen.

"Ganz anders" aber, schreibt Vagts weiter, reagierten seine Künstlerfreunde aus Bremen und Worpswede auf die Schwebefähre. Ich zitiere:  Sie können "mit der kühnen Eisenkonstruktion nichts anfangen", vermissen "Backstein und Fachwerk" und lassen sich "auch nicht dazu überreden, ein Bild der Fähre zu malen" - "obwohl der sanfte Fluß darunter ganz nach ihrem rustikalen Geschmack" ist.

Nun, der Grund dafür liegt auf der Hand: Europaweit ist die Kunstszene dieser Zeit ergriffen von einer neuen Sehnsucht nach Natur. Maler verlassen ihre Akademien und ziehen raus aus grauer Städte Mauern, die seit den Gründerjahren durch das Wirken von Schlotbaronen und Spekulanten immer unwirtlicher geworden sind.

Draußen auf dem Lande befriedigen die Maler ihr eigenes Bedürfnis nach Arbeit in unberührter Natur - und zugleich das Bedürfnis des Publikums nach Abbildern einer heilen Landschaft: eben Wasser, Wind, Wolken, Wacholder, Wiesen, Windmühlen - aber, bitteschön, keine Hochspannungsmasten und auch keine Hochbrücken, und seien sie auch noch so elegant und filigran gestaltet.

Und genauso abweisend reagieren Maler in jenen Jahren auch auf die Schwebefähren, die um die Jahrhundertwende in Frankreich gleich serienweise entstehen: in Rouen, in Brest, in Nantes, in Rochefort, in Marseille. Zwar geraten auch dort Schriftsteller - wie bei uns später zum Beispiel Peter Schütt - ins Schwärmen. Die Maler aber überlassen die Zweckbauten lieber der jungen Avantgarde der Fotografen, etwa Man Ray oder Gleichgesinnten aus der deutschen Bauhausszene. Die pilgern geradezu nach Marseille und machen die Schwebefähre im alten Hafen zu einer "Ikone der Kunstgeschichte".


"mare"-Artikel über Marseilles Schwebefähre

"Ikone der Kunstgeschichte" - dieses Zitat stammt aus der schönen Zeitschrift "mare", die voriges Jahr den Fotografien von der Schwebefähre in Marseille einen elf Seiten langen Beitrag gewidmet und über deren Urheber geschrieben hat: "Es waren Fotografen, wohlgemerkt, nicht Maler. Letztere erforschten das Licht, die Farbe. Aber diese Streben und Seile, das geometrische Gefüge der Linien, die offene Konstruktion, die Grafik des Objekts - der Transbordeur schien wie geschaffen für die Fotografie."

Im Gegensatz zu den naturseligen Maler in den Künstlerkolonien von Barbizon bis Worpswede verehrten diese Fotografen die Ingenieurbauten jener Zeit. Weil sie aus technischen Gründen ja noch weitgehend auf Schwarz-Weiß-Darstellungen  beschränkt waren, kultivierten diese Lichtbildner geradezu den Farbverzicht, sie schwelgten in bizarren Formen, in tiefschwarzen Schattenwürfen und suchten das Abenteuer der Abstraktion.

Unser großer Ostemaler Rusch hat sich von irgendwelchen avantgardistischen Tendenzen völlig unberührt gezeigt. Die Schwebefähre wiederzugeben überließ er den Technikern mit ihren Blaupausen und den Fotografen und Postkartenverlegern, für die das Bauwerk von Anfang an ein Umsatzrenner war. Auch heute übrigens, im Zeitalter der Jedermannfotografie, ist die Schwebefähre, wie unser Freund Nikolaus Ruhl vermutet, das meistfotografierte Motiv im Elbe-Weser-Dreieck.

Rusch also hat, so ist anzunehmen, die Schwebefähre in erster Linie deshalb nicht gemalt, weil sie ihm zu modern war - und vielleicht ja auch, weil es zu zeitraubend gewesen wäre, sie mit dem feinstem seiner Pinsel abzubilden, oder einfach deshalb, weil der Publikumsgeschmack, den er bediente, andere Motive bevorzugte.


Siebziger-Jahre-Bild ohne Fähre

Auf Rusch wiederum folgten - kurioserweise -  in den 70-er Jahren Kollegen, denen die Schwebefähre nun nicht modern genug war. Damals, als viele den Abriß der Schwebefähre, dieses rostigen Überbleibsels vergangener Zeiten, und den Neubau einer Betonbrücke forderten, entstand - typisch für die Fortschrittsgläubigkeit jener Zeit - ein Ostepanorama eines Cuxhavener Malers (G. Schmidt), das zwar den brandmodernen Flachdach-Anbau des Hotels Fährkrug hervorhebt, aber die alte Schwebefähre einfach wegläßt, obwohl sie bei der gewählten Perspektive das Bild beherrschen müßte.

Wir wissen heute: Die damals so vehement geforderte Betonbrücke wurde gebaut, ohne dass - dank Bürgerinitiative - die Schwebefähre abgerissen wurde. Und wir glauben auch zu wissen: Diese Betonbrücke wird kein Maler jemals malen.

Die Schwebefähre dagegen wurde zum ersten technischen Baudenkmal in Niedersachsen erklärt, ist heute einziges Baudenkmal von nationaler Bedeutung im Kreis Cuxhaven, wird vom Fernsehpublikum immer wieder zu einer der schönsten Brücken des Nordens, ja, sogar zu einem der zehn schönsten Baudenkmalen Deutschlands gewählt.

Und ihre Schwesterfähre in Bilbao steht seit zwei Jahren als Weltkulturerbe in einer Reihe mit dem Kölner Dom, dem Tadsch Mahal und den Pyramiden - so ändern sich die Zeiten.

www.oste.de


Zum Thema im Web:

schwebefaehre.de: Schwebefähren in der Kunst
Karl J. Spurzem: Le Pont Transbordeur
Jochen Bölsche: Sehnsucht nach dem Malerischen
 

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