-ky

Und der Haifisch, 
der heißt Kähne

"Horst, schwimm nicht wieder so weit raus! Und vergiss nicht, dass das hier das 'Todesloch' ist."

Mein Cousin Curt stand am Ufer des Hemmoorer Kreidesees und freute sich diebisch über seinen kleinen Scherz.  Natürlich wusste er, dass ich weder Frei- noch Fahrtenschwimmer hatte und froh war, mich immer gerade eben so über Wasser halten zu können, am besten mit einem Bein auf dem Grund. 

Hermine, seine Frau, sah die Sache lockerer.  "Lass ihn, er hat doch eben erst sein Familiengrab in Berlin wieder herrichten lassen." Curts und gut, sie spotteten nicht wenig über mich.

Ich war gern bei ihnen in Hemmoor und hatte mich diesmal für drei Wochen einquartiert, um eine Kurzgeschichte zum Thema Fisch & Mord zu schreiben und vor allem den letzten Teil meiner Familiensaga zu Ende zu bringen.  Das konnte ich in Berlin nicht wagen, da meine engsten Bezugspersonen diese Veröffentlichung unbedingt verhindern wollten und immer schnell dabei waren, das zu löschen, was ich gerade im Computer gespeichert hatte.  Sie wollten sich nicht ausschlachten lassen und hatten Angst, zu schlecht wegzukommen. 

Da half auch keine Zusicherung, dass ich ja alles gehörig verfremden würde.  Sie flüsterten sogar, mich eher umzubringen.  Das wäre zwar ein schöner Schluss gewesen, denn wie hatte Fontane einmal geschrieben: "Ein Tod kann unsterblicher sein als ein ganzes Leben", aber ... nunja ...

Hemmoor war eine liebenswürdige Kleinstadt im Elbe-Weser Dreieck und lockte mit Marsch, Moor und Geest, einem Museums- und Kulturpark, dem nahebei gelegenen Flüsschen Oste samt seiner historischen Schwebefähre und eben dem Baggersee, in dem ich gerade schon schwerer atmend schwamm. 

Das so genannte Todesloch war ehemals eine 50 Hektar große und 130 Meter tiefe Grube gewesen, in der man Kreide für die ortsansässige Zementindustrie abgebaut hatte. 1976 waren dann die Gewinne ausgeblieben und die Pumpen abgeschaltet worden.  Bald war alles voll gelaufen, und der Ort hatte sich zum vielleicht attraktivsten Tauchplatz Deutschlands entwickelt.  Dies auch, weil der Stern (36/1999) so schön berichtet hatte: "... auch erfahrene Diver unterschätzen die Gefahren.  Fünf Tote und ungezählte Unfälle - die Folgen reichen von vorübergehenden Lähmungen der Fingerspitzen bis zur permanenten Rollstuhlreife.  Panik, Stimmritzenkrämpfe, Tiefenrausch, Schwindel, Erbrechen, vereisende und abblasende Lungenautomaten - das Hemmoor ist für manche Überraschung gut.  Faustregel: Amateure kommen um, Fortgeschrittene erleiden so genannte Dekompressions-Unfälle, die zu bleibenden Schäden führen können.  Noch lebende Opfer werden mit dem Helikopter in die Druckkammer von Bremen oder Kiel geflogen."

Diese Horrorbilder hatte ich zwar gespeichert, aber ich tauchte ja nicht richtig, sondern hatte mir nur von Curt TaucherbriIle, Flossen und Schnorchel geborgt, um selber vor Augen zu haben, wovon sie alle schwärmten.  Da waren die Scharen der prachtvoll gedeihenden Saiblinge, die Binnenlachse und Seeforellen, aber auch das surreale Unterwasser-Ambiente mit versunkenen Wäldem, Montagebrücken, Rohrleitungen, Steilwandtreppen und vor allem dem gewaltigen Rüttler, gebaut, um Kreide und Flintsteine voneinander zu trennen.
Das Wasser war so klar wie frisch aus der Leitung, und ich spähte mit leichtem Schauder in die Tiefe.  Seit Kindertagen suchen wir ja insgeheim alle nach Atlantis, nach Vineta und Rungholt, untergegangenen Städten und Welten.

Doch kaum hatte ich mich in diesen Träumen verloren, da schrie ich auf "Ein Hai!  Hier schwimmt ein Hai!  Hilfe, Curt!

Schräg von unten schoss ein silbergrauer bis schwärzlicher Körper nach oben.  Ein Torpedo, aber einer mit dreieckiger Schwanzflosse, weit aufgerissenem Maul und zwei Reihen tödlich scharfer Zähne.  Erst glaubte ich, den Verstand verloren zu haben, dann aber ... Höllisch war der Schmerz.  "Er beißt mir das Bein ab!  Curt ..."

Für Augenblicke verlor ich das Bewusstsein, kam aber wieder zu mir, als mich mein Cousin packte und ans Ufer zog.  Sie hätten mich auf der Stelle in die Psychiatrie gebracht, wenn da nicht diese charakteristische Bisswunde am rechten Bein gewesen wäre und Hermine nicht mit Sicherheit eine Schwanzflosse gesehen hätte.

Die Republik hatte also ihre Sensation: nach dem Krokodil im Rhein den Hai im Hemmoorer Kreidesee.  Ich hätte schon einen Roman mit Nobelpreisreife und Hollywood-Verfilmung schreiben müssen, um so oft in den Medien zu sein wie am nachfolgenden Tag, konnte also überhaupt nicht klagen.  Trotz meines verbundenen Beines und einer gehörig schmerzenden Wunde, meines Schocks und eines gewissen posttraumatischen Belastungssyndroms.  Zuerst meinten einige, da sei wieder einmal die Phantasie mit mir durchgegangen, doch sie verstummten schnell, als kurz nach mir ein älterer Taucher und eine jugendliche Schwimmerin ebenfalls mit Haibissen geborgen werden mussten und immer mehr emst zu nehmende Menschen die Flosse auf dem Kreidesee gesehen hatten.

"Wie kommt Kuhkacke aufs Dach?" Beim Abendessen wiederholte ich das, was meine Großmutter in solchen Fällen immer ausgerufen hatte.  "Die Kuh kann doch nicht fliegen ..." Ja, wie kam ein ausgewachsener Hai in einen See, der in keinerlei Verbindung mit der Nordsee stand und nicht einmal einen Fluss hatte, der ihn speiste.  Es gab nur eine Antwort: "Einer muss ihn über Land nach Hemmoor gebracht und hier ausgesetzt haben." Warum wohl?

"Um den Tauchsportschulen hier zu schaden", war Curts Vermutung.

Ich lachte.  "Gestehe doch, dass du es warst."

Seine Frau war nämlich Apothekerin, und wenn man alle Verbände, Pflaster, Salben und Medikamente bei ihr erwarb ... Seit Ingrid Noll konnte man ja Vertreterinnen dieser Berufsgruppe immer alles zutrauen.

Was aßen wir?  Natürlich Hai, von Hermine nach einem alten Rezept köstlich zubereitet.  Schmeckte viel besser als der übliche Pescecane alla griglia.
"Hemmoor ist da, wo der Hai seine Haimat hat", sagte ich.  "Obwohl ich von allen Fischen den Stör am meisten liebe..." "Wieso denn das?"

"Weil ich dabei immer an einen meiner frühen Kriminalromane denken muss.

"Du hast doch keinen, wo ein Fisch drin vorkommt .Doch: Stör die feinen Leute nicht."

Es dauerte eine Weile, bis Curt die Sprache wiederfand.  "Du musst dir ja vorkommen wie ein Kannibale, der den erlegten Feind genüsslich verspeist."

"Leider nein.  So richtig high bin ich nicht, denn bei Hai muss ich immer an meinen alten Freund Richard denken, Richard Hey, und der ist mir heylig."

"Nutz die Sache mit dem Hai, der dich gebissen hat, doch für deine Kurzgeschichte", riet mir Hermine.

"Keine schlechte Idee ... aber wo ist da die Pointe, meine Dame?" Ich begann frei zu assoziieren.  "Wenn schon einer von einem Hai gebissen wird, dann wenigstens einer mit dem Namen Fisch ... und zwar in den Kopf.  Die Wunde beginnt zu eitern, richtig zu schweren.  Und einer sagt dann: 'Der Fisch beginnt vom Kopf her zu stinken."' Darauf schrien sie, ich solle aufhören, ihnen verginge jeder Appetit.  "Gut, schreibe ich etwas über Kredithaie.  Die sind meistens gut parfümiert."

"Ich hab eine Idee ..." Hernimmt wollte loslegen, verschluckte sich aber.

Prima!", schrie ich.  "Gräten!  Da habe ich 'a schon ein Mordinstrument, wie es nicht besser sein könnte."

.Schrei doch nicht so."

"Bei Gräte fällt mir immer Grete ein ... und die ist nun mal schwerhörig gewesen."

"Und aus Breslau ist sie gekommen." Nun schrie auch Court, denn Tante Grete war unsere gemeinsame Großtante.

Hermine ließ sich jedoch nicht davon abhalten, ihren Plot zu entwickeln.  "Du nimmst eine Frau, die ein Aquarium hat und ihre Fische liebt wie ihre eigenen Kinder.  Diese Dame will nun einer umbringen.  Da tötet er ihre Fische, zerstückelt, brät und kocht sie und gibt sie ihr zu essen.  Darauf bricht sie zusammen und stirbt."
Ich nickte anerkennend.  "Ein schönes Beispiel für einen psychogenen Mord."

Curt fand, dass sein Einfall noch besser sei.  "Mach's doch so wie beim Ring des Polykrates.  Der Mörder verliert bei der Flucht seinen Ring im Wasser, und der wird von einem Fisch verschluckt.

Er ist der Beweis, dass er der Täter ist.  Und wer findet ihn beim Filettieren ... ?"

Die Antwort musste er uns schuldig bleiben, denn in diesem Augenblick klingelte das Telefon.  Curt ging ran, lauschte kurz und winkte mir dann zu.  "Für dich."

"Ich bin nicht da."

"Die Cox-Film Berlin..."

Da sprang ich so schnell auf, dass hinter mir der Stuhl umfiel.  Jetzt kam der Auftrag für ein großes Drehbuch - und alle meine finanziellen Sorgen waren vergessen.
Nein, nur eine Anfrage ohne Honorar, "-ky, sagen Sie bitte, kennen Sie KW?"

"Na sicher kenne ich KW." Das stand nicht für Kilowatt und auch nicht für das Städtchen Königs Wusterhausen bei Berlin, sondern für meine beiden Krimischreiberkollegen Konrad Kähne und Norbert Wamitz, die ihre Romane und Stories seit mindestens 1985 unter KW veröffentlichten.  Sie kamen beide aus besagtem Königs Wusterhausen, im Volksmund nur KW genannt, und wussten selber nicht, ob ihr Pseudonym primär von ihrem Heimatort oder den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen herrührte.  Beides traf wohl zu.

"Und was halten Sie von ihnen?"

"Das sind gute Leute, sehr empfehlenswert, obwohl ich bei Norbert Wamitz ... Aber lassen wir das.  Worum geht's denn eigentlich?"

"Die beiden haben uns ein Drehbuch zugeschickt ... eine wunderbare Sache.  Der Eindoser.  Ein Serientäter, der seine Opfer zerstückelt und Teile des Fleisches dann ... Das ist so hinreißend, dass wir einen Oscar für den besten ausländischen Film kriegen werden, wenn wir ... Nun suchen wir fieberhaft nach K & W. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo die stecken könnten?"

Ich überlegte einen Augenblick.  "Ja.  Konrad Kähne ist auf einer Lesereise und hüpft von einer ostfriesischen Insel zur anderen.  Nordemey, Baltrum und so weiter ... Und Norbert Wamitz ist ab nach Indien."

Man bedankte sich und legte wieder auf, nicht ohne mir vorher geraten zu haben, nicht mehr ohne Harpune ins Wasser zu steigen: "Am besten aber in einem Käfig eingeschlossen." Nun, der Hemmoorer Hai war sozusagen in alle Munde, nur zu fangen vermochte ihn keiner.  Dabei gab es zahllose Jäger.  Tag für Tag stiegen Polizei- und Marinetaucher ins Wasser, um bis zu einer Tiefe von 65 Metern jeden Winkel abzusuchen ... doch jedes Mal vergeblich.  Dazu kamen Dutzende von Hobbytauchern und Bildreportern, die schnell einen Crash-Kurs absolviert hatten.  Zwar war das Baden, Schwimmen und Tauchen im Kreidesee längst verboten worden, doch kaum einer hielt sich auch daran.  Und immer wieder sahen welche den Hai.  Entweder kam er unter Wasser auf sie zugeschwommen oder zeigte oben seine charakteristische Schwanzflosse.  Es gab inzwischen so viele Fotos von ihm, dass an seiner Existenz nicht mehr zu zweifeln war.  Der allseits geschätzte Meeresbiologe Prof. Dr. Selachli von der Uni Hamburg erkannte in ihm ein Exemplar der Gattung Carcharias glaucus, vulgo Blau- oder Menschenhai, und erklärte auf ENTER-1, dass einzelne dieser Fische, die eine Länge von drei bis vier Metern aufwiesen, durchaus in der Nord- und der westlichen Ostsee vorkommen könnten.  "... Färbung oberseits schiefer- bis tiefblau, seitlich heller, unterseits schneeweiß.  Sehr spitze Schnauze.  Dass er Menschen angreift, ist in gemäßigten Zonen zweifelhaft, aber ... Gebissen worden sind ja jedenfalls schon einige Badegäste.  "

Wann wird es im 'Todesloch' den ersten Toten geben?  Das war die große Frage der Boulevardzeitungen, und man hoffte klammheimlich, dass es sehr bald geschehen würde.  Vielleicht war der Hai sogar so nett, sich ein attraktives Opfer auszusuchen.  Einen ersten Kandidaten hatte man schon ausgemacht.  Leider nicht mich, sondern Lev Lebusa, den Top-Moderator von ENTER-1.  "Trotz der Haifischwarnung springt er jeden Morgen in den See."

Ich sah Lev Lebusa zum ersten Mal face-to-face, als er in Hermines Apotheke stand und nach jenen gefühlsechten Produkten fragte, für die mit Überschriften wie "Mach's mit" oder "Ich komme mit" ständig auf großen Plakatwänden geworben wurde.  Klar, dass er bei den vielen Groupies, die ihn begehrten, in dieser Hinsieht enorme Aufwendungen hatte.  Und er war wirklich ein schöner Mann.  Wäre ich in der glücklichen Lage gewesen, zu den Nutznießern des neuen Homo-Ehe-Paragraphen zu gehören, hätte ich sofort zu träumen begonnen.  So blieb mir nur der kommerzielle Traum, mal in seine Show eingeladen zu werden und anschließend 10 000 statt 1 000 Bücher verkaufen zu können.  Ich bin in den Medien, also bin ich.
Ich versuchte, witzig zu sein.  "Ah, alle Gliedmaßen noch dran ... ?  Ja. Aber wenn Bein ab, dann Bayer Leverkusen.  Die haben ja bestimmt bald ein Medikament, das alles nachwachsen lässt, siehe das Klonen und die Stammzellenforschung." Die Anspielung auf Leverkusen bezog sich darauf, dass der Star-Entertainer an sich Thomas Kothe hieß, aber schnell begriffen hatte, wie tödlich das für einen war, der die Welt erobern wollte.  Da er aus der Ortschaft Lebusa kam, was in der Lausitz lag, westlich von Lübben und dem Spreewald etwa, und jetzt in Leverkusen wohnte (polizeiliches Kennzeichen LEV), war er auf den Künstlemamen Lev Lebusa gekommen, was in den Zeiten der anstehenden EU- Osterweiterung seine Wirkung nicht verfehlte.

Curt trat hinzu, rühmte meine Werke und fragte Lev Lebusa, ob er mich denn kenne.

"Nein, natürlich nicht." Bücher zu schreiben und Bücher zu lesen war für ihn uncool hoch zwei, so vorsintflutlich wie mit der Sanduhr die Zeit zu messen oder mit dem Kienspan die Behausung zu erhellen.

"Dabei haben wir doch eines gemeinsam", sagte ich: "Ein Pseudonym, das mit unserem Herkunftsort zu tun hat, denn -ky gleich Kyritz.  Nehmen Sie noch KW dazu, dann haben wir eine schöne Runde beisammen."

Er würdigte mich keiner Antwort.  Ich war ein Nichts für ihn und für seine Verwertungszwecke völlig unbrauchbar.  Wer wollte in einer Game Show Schriftsteller sehen und hören.  Nur die Idioten mit einem IQ von 150 und mehr, und die brachten keine Quote.

Mein Cousin wollte aber so schnell nicht aufgeben und suchte, Lev Lebusa in ein Gespräch zu verwickeln und länger in der Apotheke zu halten.  "Wir sehen jede Sendung von Ihnen", schmeichelte er, log er.  "Und jetzt lernen Sie Tauchen hier bei uns, um nächstes Mal von unter Wasser zu senden?"

"Nein.  Ich kriege die Hauptrolle in einer Taucher-Serie.  Dazu muss ich ein perfekter Taucher sein.  Also: üben, üben, üben.  Da hab ich mir 'n Ferienhaus gemietet, gleich unten am See.  Sechsundzwanzig Folgen, und wir drehen überall, in Thailand, in der Karibik, in Australien ... "

Was sollte ich da mitreden.  Ich zog mich mit meinem Laptop in den kühlen Garten zurück und versetzte mich in meinen Helden Manfred Matuschewski, wie er in den Landkreis Potsdam-Mittelmark fuhr und nachher im Caputher Fährhaus saß und prächtig aß. Da kam Curt auf die Terrasse gestürzt.

"Der Hai ist tot!"

"Richard Hey?" Hoffentlich nicht, denn in diesem Falle hätte ich nicht nur Trauerarbeit zu leisten gehabt, sondern auch Nachrufe schreiben und über etliche Sender in 1:30 erklären müssen, wie er mit seinen klassischen Romanen um die Kommissarin Ledermacher, etwa Ein Mord am Lietzensee, zu den Großmeistern unserer Branche aufgestiegen war.

"Nein, unser Hai hier."

"Wie ist er denn ..." Ich hatte da schon meine Hypothese.  "Ist das Wasser auf Dauer doch zu kalt für ihn gewesen?"

"Nein, er ist ermordet worden."

Ich zeigte mich ein wenig verwirrt.  "Wie kann man einen Fisch ermorden ... ?"

"Den Fisch nicht, den Mann, der drin gesteckt hat.  Da hat sich einer als Hai verkleidet.  Ganz einfach: Grauer aufblasbarer Plastikanzug mit Flossen dran, so 'ne Art Ballonhülle, und einer Schnauze mit Zähnen aus 'ner zersägten Drahtbürste ..."

Das also war des Hais Kein: Da hatte einer das Todesloch genutzt, um das Sommerloch zu füllen und sich in die Medien zu bringen.  Hai, bist du der Hai-Mann von Hemmoor?  Hallo, Sharky! So einer wurde von einer Talkshow zur anderen gereicht.  Wenn nicht vorher jemand kam und ihn ermordete ...

"Womit ist er denn ... ?"

� Mit einer Harpune." Curt war von einem Apothekenkunden informiert worden.

"Weiß man schon, wer der Hai-Mann ist?"

"Nein."

Da Curt sowieso nach Warstade musste, um einer Frau, die ans Bett gefesselt war, ihre Medikamente zu bringen, setzte ich mich mit ins Auto, denn der Kreidesee war gleich um die Ecke.  Nun war ich doch neugierig geworden.  Schließlich war ich ja das erste Opfer des toten Hais.

Der Leiter der Mordkommission hieß Jürgens, hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem großen Udo, obwohl seine Mutter während der Zeugung ganz offensichtlich unter dem Einfluss der Droge Siebzehn Jahr, blondes Haar gestanden hatte.  Jürgens, Gero Jürgens, musste ständig dagegen ankämpfen, so auszusehen.  Auch mit knapp vierzig Jahren noch.  Er schien auf mich gewartet zu haben ...

"Sie sind der Horst Bosetzky, der seine Bücher unter dem Pseudonym -ky veröffentlicht?"

"Nein, der -ky, der seine Romane als Horst Bosetzky Jürgens, obwohl irgendwo zwischen Hamburg und Cuxhaven auf die Welt gekommen, das hörte man, sah mich so stier und finster an und so verhalten aggressiv, wie es früher nur die Grenzposten der DDR zustandegebracht hatten.  "So heiter ist das Ganze nicht."

"Pardon, nein, ein Mord ist wirklich keine Lachnummer, da haben Sie Recht, und da bin ich auch zu sehr Moralist, um so etwas ... Aber die Umstände: dass sich ein Mann als Hai verkleidet ..."

Jürgens fixierte mich derart inquisitorisch, dass ich das Gefühl hatte, aus seinen Augen würden plötzlich Laserstrahlen zucken.  "Sie kannten den Mann doch, oder ... ?"

"Nein, woher denn?" Ich wusste beim besten Willen nicht, was das wohl sollte.

"Waren Sie nicht zehn Jahre lang Sprecher des 'Syndikats', und waren da nicht alle drin, die Krimis schreiben?"

Nun begriff ich erst, worauf er hinaus wollte.  "Sagen Sie bloß, der Hai-Mann war auch ein Krimi-Autor?"

"Ja.  Und zwar ein ganz besonderer Freund von Ihnen.  Norbert Wamitz."

Ich musste mich setzen.  Es gab aber nichts außer einem umgestürzten Baum, dessen Äste in den Kreidesee ragten.  Jürgens folgte mir.  Als ob er damit rechnete, dass ich ins Wasser springen und fliehen würde.  Ich hob sicherheitshalber die Hände.  "Keine Angst, ich hau nicht ab." Damit sank ich auf die umgestürzte Trauerweide. "Das heißt also, dass ich unter Mordverdacht stehe ... ?"

Jürgens widersprach mir nicht.  "Wenn Sie es so sehen ... Fakt ist jedenfalls, dass er Sie in seinem Tagebuch als seinen Todfeind bezeichnet.  Sie hätten einmal gesagt, wenn eine böse Fee käme und Ihnen sagte, Sie könnten zehn Menschen umbringen, ohne dafür belangt zu werden, dann wäre er mit Sicherheit dabei."

"Was man so sagt, wenn man im Übermaß Mineralwasser getrunken hat."

"Das ist keine Talkshow hier." Jürgens schien schon nach Handschellen zu suchen.  "Norbert Wamitz ist heute Morgen kurz vor sieben Uhr ermordet worden.  Da haben Sie ja sicherlich ein Alibi?" "Ja, ich habe im Bett gelegen und endlich einmal ausgeschlafen." "Allein?"

"Ja.  Aber hätte ich geahnt, dass ich mich dadurch ..." 
Nun verlor ich doch die Contenance.  "Verdammt noch mal, ich habe gar nicht gewusst, dass sich Norbert Wamitz hier in Hemmoor aufgehalten hat.  Irgendwo hat gestanden, dass er nach Indien geflogen ist.  Und meinetwegen hätte er da auch bleiben können, für den Rest seines Lebens."

"Sie hatten etwas gegen ihn?"

"Na sicher.  Weil er mich dauernd angepinkelt hat.  Dieser elende kleine Wadenbeißer.  Und wenn das nicht von hoher Symbolik ist, dass er mir auch hier im See in die Wade gebissen hat ... als Hai.  Teilweise hat er sich mit Rezensionen sein Geld verdient und alles furchtbar verrissen, was ich je zu Papier gebracht habe.  Da fällt es einem schon schwer, die Menschen zu lieben.  Obwohl er ja an sich ein ganz liebenswerter Kerl ist ... war.  Aber auf mich hatte er sich so richtig eingeschossen."

"Und da sind Sie auf die Idee gekommen, einmal zurückzuschießen ... mit einer Harpune?"

"Ich kann doch überhaupt nicht tauchen, nicht einmal richtig schwimmen."

"Er ist ja auch erschossen worden, als er an Land gestiegen ist."

Ich war nahe daran, mich fallen zu lassen.  "Bin ich nun verhaftet?"

"Nein, aber..."

Dieses Aber sprach Bände und war der Grund, warum ich in dieser Nacht nicht einschlafen konnte.  Wer hatte gewusst, dass Norbert Wamitz der Hai-Mann war, und ihm die Harpune in die Brust gejagt?  So sehr ich auch grübelte, es gab nur eine Hypothese, die überzeugend war: Konrad Kähne, sein Freund, Mitautor, Partner und Lebensgefährte.  Sie hatten sich nach so vielen Jahren auseinandergelebt, einfach über gehabt.  Aber nicht nur das: Kähne hatte ihn mehr und mehr gehasst.  Von Anfang an hatten sie dem anderen alles zugeschrieben, war doch Wamitz nicht nur Autor, sondern auch Schauspieler, Kabarettist und Maler, hatte er als der Kreative gegolten, als 'der Kopf der Zweierbande'.  Er dagegen, Kähne, Eigentümer einer verstaubten kleinen Buchhandlung in Berlin-Charlottenburg, war immer nur die graue Maus gewesen, und man hatte ihn unausgesprochen in der Rolle der Tippse gesehen, vielleicht auch noch des Sekretärs und Buchhalters.  Etwas, das KW auch brauchte, was aber nicht das Eigentliche war.  Vielleicht hätte es Kähne auch weiter so genommen, wie es denn gekommen war, wenn da nicht der Anruf der Cox-Film gewesen wäre.  Endlich der große Sprung vom Mittelmaß an die absolute Spitze.  Geld und Ruhm.  Und diesmal hatte er nicht wieder teilen wollen ... Aber wäre es denn rein faktisch gegangen?  Ja. Von Bensersiel oder Harle mit dem Auto nach Hemmoor, keine Entfernung.  Vielleicht war er auch nur an den Kreidesee gekommen, um mit Wamitz über den Eindoser zu reden ... und hatte dann die Beherrschung verloren.  Mit diesem Bild vor Augen schlief ich endlich ein.

Nach dem Frühstück wollte ich bei Jürgens anrufen, zögerte aber Minute für Minute.  Wenn ich einen Menschentypen hasste, dann den Denunzianten, und so kam ich mir nun vor.  Aber irgendetwas musste ich doch tun, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.  Vielleicht Curt und Hermine alles erzählen und dann abwarten, ob die zur Polizei gingen ... Aber das war auch nicht gerade das, was einem bei sich selbst und anderen besonders viele Pluspunkte einbrachte.  Also ... Ich entschloss mich, weiterhin unentschlossen zu bleiben.
Da kam Gero Jürgens in die Apotheke und machte mir die Sache leicht.  "Ich habe eben eine Weile mit Konrad Kähne telefoniert, und der kennt nur einen Tatverdächtigen.  Raten Sie mal, wer das sein könnte."

"Das ist ja wohl der Gipfel!" Nun gab es kein Halten mehr für mich.  Und je länger ich redete, desto stärker wurde mein Gefühl, dass der Kommissar mir Glauben schenkte.  "Konrad Kähne hatte also ein Motiv, ein sehr starkes sogar.  In unserer Branche wird es zunehmend hart und härter, einer ist der Wolf des anderen.  In unserem Falle wohl: der Hai des anderen.  Frei nach Brecht: Und der Haifisch, der heißt Kähne."

"Nun gut." Jürgens machte sich die letzten Notizen.  "Das klingt nicht uninteressant, was Sie da sagen.  Wir hören voneinander.  Sie bleiben doch noch ein paar Tage in Hemmoor?"
"Habe ich sozusagen Hausarrest?"

"Nein, aber die Tatwaffe, die Harpune, befindet sich noch im LKA-Labor.  Am Schaft ist Blut entdeckt worden.  Offensichtlich hat sich der Täter verletzt, als er sie schussfertig gemacht hat.  Wir können also auf die DNA-Analyse setzen.  Jeder, der zur fraglichen Zeit in der Nähe des Kreidesees gewesen ist, wird gebeten, uns taugliches Material zugänglich zu machen.  Dazu kommen noch Herr Kähne und Sie."

"Was darf es denn sein: Spucke, Blut, ein Stückchen Haut, ein Büschel Haare, Sperma ... ? Obwohl ich im letzteren Falle bei meiner augenblicklichen Stimmungslage ... "
"Kommen Sie bitte heute um 16 Uhr zur Speichelprobe."

Was ich dann auch machte.  Anschließend hieß es warten.  Viel zu langsam vergingen die Tage.  Ich paddelte die Oste hinauf und hinab, ich fuhr mit dem Rad die Deiche entlang, ich verbrachte die Regentage im Buddelschiff- und im Heimatmuseum, ich erklomm die Hügel der Wingst ...

Endlich kommt der Anruf.  "Entwarnung für Sie", höre ich Jürgens sagen.  "Wir haben das Ergebnis der DNA-Analyse.  Der Täter ist kein Täter ... Es ist ein Unfall gewesen.  Lev Lebusa.  Er hat als Erster den Verdacht gehabt, dass der Hai nicht echt ist, und den Hai-Mann exklusiv für ENTER-1 enttamen und interviewen wollen.  Als es dann so weit war, hat sich der Schuss aus Versehen gelöst.  Wamitz ist auf der Stelle tot gewesen.  Da hat Lebusa die Nerven verloren und ist auf und davon, quasi abgetaucht."

Ich kann also aufatmen.  Ein paar Minuten später ist die Cox Film am Apparat.  "Ach, wissen Sie, -ky, bei Licht besehen taugt das Drehbuch, das uns K und W geliefert haben, nun doch nicht so recht für einen großen Kinofilm.  Der Plot ist aber weiterhin klasse.  Ob Sie sich mal an den Eindoser ranmachen wollen?" Das kann ich mir nicht entgehen lassen und sage zu.

Zehn Minuten später meldet sich Konrad Kähne per Handy bei mir.

"Das ist ja wohl die größte Sauerei, die ich je erlebt habe.  Du mieser kleiner Leichenfledderer, du!"

"Es tut mir Leid.  Wir können aber auch gerne zusammen den Eindoser ..."

"Nicht mit dir.  Und ich würde mich an deiner Stelle auch schon mal nach einem Bodyguard und einer kugelsicheren Weste umsehen.  Und einem neuen Verlag.  Ich hab denen mal gesteckt, was du hinter den Kulissen so alles an Bemerkungen über den Verleger und die Lektoren fallen lässt.  Deine Zeit ist vorbei, du kannst dich ab heute zu den kleinen Fischen zählen ... und dir den passenden Film ansehen: Haie und kleine Fische.  Und du sollst mich jetzt mal so richtig kennen lernen.  Hei, mein Lieber!"

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Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Aus: Flossen Hoch! Kriminelles zwischen Aal und Zander, Peter Gerdes (Herausgeber), Leda-Verlag, 1. Auflage (2002)

 


 
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